JOHANNES DE KETHAM
FASCICULUS MEDICINAE, 1513
EIN ILLUSTRIERTES SAMMELWERK
Das Werk ist unter dem Kurztitel „Fasciculus Medicinae“ bekannt, was „Bündel der Medizin“ bedeutet. Es handelt sich um ein sehr frühes medizinisches Sammelwerk, das aus unterschiedlichen Abhandlungen besteht. Die erste wie auch die vorliegende Ausgabe erschienen bei den Brüdern Giovanni und Gregorio Gregorius in Venedig, die bereits zuvor zwei medizinische Werke gedruckt hatten.
Die Abhandlungen greifen zentrale Themen der spätmittelalterlichen Medizin auf. Sie geben Auskunft über diagnostische Verfahren wie die Uroskopie und über Wissenswertes aus der Anatomie und Frauenheilkunde, über Behandlungen wie den Aderlass nach astrologischen Vorschriften, über die Therapie besonderer Krankheiten wie der Pest oder über die Versorgung von Wunden.
Eine Besonderheit des Fasciculus ist die reiche, hier farbige Bebilderung: Er enthält zehn Holzschnitte in hoher Qualität, die als Linienholzschnitte wie Zeichnungen hergestellt wurden. Zuvor waren erst zwei medizinische Illustrationen publiziert worden: Eine Darstellung der drei Hirnventrikel in der Philosophia naturalis (Brescia 1490) und eine Aderlassfigur in einer flämischen Sammlung chirurgischer Texte (Löwen 1481).
Die Abhandlungen waren als Handschriften nicht unbekannt, aber schwer zugänglich. Da Druckerzeugnisse viel Geld kosteten, war es für Mediziner attraktiv, eine Sammlung verschiedener wichtiger Texte in einem einzigen Band zu kaufen. Die Nachfrage nach dem Werk nach seiner Erstauflage als Inkunabel (Wiegendruck) 1491 war derart gross, dass innerhalb von rund 30 Jahren 20 Neuauflagen gedruckt wurden.
EIN GEHEIMNISVOLLER HERAUSGEBER
Johannes de Ketham (ca. 1415- 1470) war weder der Autor noch der Sammler der Texte, sondern der Herausgeber. Er besass wahrscheinlich eine der Handschriften, die er als Vorlage für den Druck verwendete. Von Ketham selbst ist wenig bekannt. Man geht davon aus, dass er als Hans Kellner von Kirchheim ca. 1415 in Kirchheim unter Teck zur Welt kam. Später taucht er in Wien als Medizinprofessor auf, wo er die Textsammlung möglicherweise für seine Vorlesungen brauchte und weiterempfahl. Er praktizierte vermutlich als Arzt, war in politische Auseinandersetzungen involviert und starb 1470 in Ofen.
Die Seite mit dem ersten Holzschnitt trägt den Namen Petrus de Montagnana, Chirurgieprofessor in Padua. Ansonsten werden erwähnt: Petrus de Taussignano als Autor eines Pesttraktats, Mundinus de Luzzi, ein Anatom aus Bologna, der 1316 als erster Autor eine Handschrift mit praktischen Sezierübungen für seine Studierenden verfasste, sowie Rhazes, Arzt und Philosoph in Persien im 9. und 10. Jh., einer der bekanntesten arabischen Mediziner, als Autor einer Abhandlung über Krankheiten der Kinder. Der Name Ketham findet sich neben der Beschreibung, die besagt, dass die zusammengetragenen Abhandlungen von berühmten Ärzten stammen.
EIN LONGSELLER AUS DEM SPÄTMITTELALTER
Das vorliegende Werk geht auf eine Textsammlung zurück, von der zwei mittelalterliche Abschriften existierten. 1491 kam eine der Handschriften erstmals als Wiegendruck heraus. Bis dahin waren Kalender und Einblattdrucke mit medizinischen Ausführungen publiziert worden, nicht aber illustrierte Bücher. Innerhalb von wenigen Jahren entstanden mehrere Auflagen und Übersetzungen in zahlreiche europäische Landessprachen.
Ketham bezeichnete sich nicht als „Medicus“, sondern als „Dominus Alamanus“. Er reihte sich damit nicht in die Liste der berühmten Autoren ein, sondern gab die Texte heraus. Der Fasciculus steht in der Tradition der Scholastik, der Weitergabe von Wissensinhalten ohne eigene Überprüfung.
Die Holzschnitte dagegen waren damals innovativ. Der Künstler ritzte die komplexen Zeichnungen in Linienform in den hölzernen Druckstock. Dann wurde der Druckstock eingefärbt, so dass sich die Linien mit Druckerfarbe füllten, und danach auf Papier gepresst. Die flächenförmigen Bildkompositionen beeindrucken durch die vielen Details und die feine Ausarbeitung.
EINBLICKE IN MITTELALTERLICHE KÖRPERBILDER
Der Fasciculus bietet Gelegenheit, die Körpervorstellungen und Medizinkonzepte des Mittelalters kennen zu lernen. Der Mensch wurde als Teil der göttlichen Welt, als ein Mikrokosmos im Makrokosmos des Universums, wahrgenommen.
Studierte Ärzte waren im Mittelalter selten, da erst wenige Universitäten existierten. Sie präsentieren sich in Text und Bild als Lehrer, Anatomen und als behandelnde Ärzte. Die Holzschnitte bilden auch Patienten und Pflegende ab, die den ärztlichen Anweisungen folgen. Die Entstehung und Behandlung von Krankheiten orientierten sich an der Viersäftelehre, die in Abhängigkeit von den Tierkreiszeichen und den Jahreszeiten stand. Die Entnahme von Blut (Aderlass) musste zur richtigen Zeit und an der zugehörigen Körperstelle durchgeführt werden. Das Innere des Körpers war trotz häufiger Todesfälle weitgehend unbekannt und beim weiblichen Körper sogar als Geheimwissen tabuisiert. Als besonders bedrohlich galten vor allem Verletzungen, Krankheiten im Kindesalter und die Pest, auf die der Fasciculus speziell eingeht.